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#15 Turkmenistan – 5 Tage ohne Freiheit


Auf einen Blick:
  • 17. Mai 2019 (Tag 307) - 21. Mai 2019 (Tag 3011)
    • 1. Tag: 103,03km; 6 Stunden 21 Minuten; Höhenmeter: 38 hoch, 80runter
    • 2. Tag: 137,57km; 7 Stunden, 25 Minuten; Höhenmeter: 78 hoch, 38runter
    • 3. Tag: 95,10km; 6 Stunden, 38 Minuten; Höhenmeter: 139 hoch, 163runter
    • 4. Tag: 137,36km; 7 Stunden, 53 Minuten; Höhenmeter: 247 hoch, 225runter
    • 5. Tag: 47,28km; 3 Stunden, 25 Minuten; Höhenmeter: 7 hoch, 47 runter
  • 58 Euro ausgegeben (2 Personen)
  • Seit Salzburg 11.068 km geradelt


Turk-men-was? Turkmenistan! Kennst du nicht? Wir auch nicht. Zumindest noch nicht. Wir sitzen in einem schrulligen Hotel in Saraks, der Grenzstadt zwischen dem Iran und diesem Turkmenistan. Vor wenigen Wochen haben wir in Teheran (Iran) mit viel Freude das 5-Tages-Transitvisum entgegennehmen dürfen und dafür stolze 90 US Dollar bezahlt. Die Chance, das Visum für dieses mysteriöse Land zu bekommen, scheint von der Willkür der Beamten abzuhängen. Doch wir haben Glück gehabt und halten das teuerste Stück Papier unseres Lebens in der Hand.

„500 km in 5 Tagen. Sind deine Beine bereit?“ Reini grinst mich an. Letzte Woche habe ich die Radtage täglich vor Erschöpfung mit Tränen beendet. Die vier Tage Pause in Mashhad haben zwar gut getan, aber ganz auskuriert bin ich von unserer Wüsten-Challenge noch nicht. „Sicher!“, gebe ich Reini lautstark zurück. Dabei bin ich mir in diesem Moment nur in einer Sache sicher, nämlich der Unsicherheit, ob die nächsten 5 Tage gut gehen werden.

17. Mai 2019. Heute. Dieses Datum steht auf unserem Visum, an diesem Tag müssen wir einreisen. Der Grenzposten öffnet um 8 Uhr oder vielleicht um 9 Uhr. So ganz genau weiß das keiner. Da ist ja auch noch Zeitverschiebung zwischen den beiden Ländern, wie soll man sich da auskennen! Auf der Iranischen Seite wechseln wir bei einem dubiosen Typen im Auto unsere letzten Rial in Manat zu einem erschreckend guten Wechselkurs. Ist hier was falsch? Man hört ja viel über die um Welten auseinanderklaffenden Wechselkurse zwischen Banken und Schwarzmarkt. Der turkmenische Staat behauptet, sein Manat wäre viel mehr wert, als er tatsächlich ist. Deswegen würde uns die Bank drei Viertel weniger bieten als dieser zweifelhafte Mann im Auto, der die Beifahrerklappe aufmacht und dicke Geldbündel hervorzieht. Ohne zu zögern nehmen wir die Scheine, die er uns nach zehnmaligem Nachzählen in die Hand drückt, an, bedanken uns, machen uns schnellstmöglich aus dem Staub und stellen uns zum Grenzübergang. 

 

Dort ist schon einiges los. Viele Turkmenen stehen mit endlos viel Gepäck vor dem Eingang und warten. Nach einer Stunde werden alle unruhig. Wir auch. Jede Minute, die wir hier absitzen, fehlt uns bei den heute unbedingt notwendigen 100 Kilometern. Die Aufregung steigt. Wir fühlen uns wie zwei Rennpferde, die im Starthaus mit den Hufen scharren. Dann endlich der erlösende Startschuß: Eine völlig gestresste Frau sperrt hastig die Türe auf, fährt das Scannergerät hoch und während sie von einer Ecke in die andere rennt, um alles vorzubereiten, muss sie ununterbrochen ihren dreijährigen Sohn zurechtweisen, der voller Übermut den Arbeitsplatz seiner Mutter durchforstet. Unter ihrem Hijab kullern die ersten Schweißperlen hervor. Gestresst und überhitzt winkt sie letztendlich einen nach dem anderen über die Grenze und wir rollen ohne die gefürchtete Gepäckskontrolle mit zwei Stunden Verspätung in Turkmenistan ein. Höchst euphorisiert reiße ich mir das Kopftuch runter und rufe befreit: „LOS GEHT`S!!!“

 

Ein Gefühl der Freiheit in Turkmenistan. Irgendwie absurd. Im Iran musste ich zwei Monate lang ein Kopftuch tragen. Es abnehmen zu dürfen erfüllt mich mit Euphorie und dem Gefühl frei zu sein. Dabei sind wir jetzt in einem Land, in dem es Freiheit quasi nicht gibt. Keine Freiheit für die Presse, keine Freiheit zu reisen, keine Freiheit der eigenen Meinung. Was spielt es da schon für eine Rolle, ob man die Freiheit hat, kein Kopftuch tragen zu müssen? 

 

Turkmenistan verschiebt Relationen. Und das ganz schön drastisch, wie wir nach und nach lernen. Der Präsident tritt als „allmächtiger“ Alleinherrscher auf, der im ganzen Land in überdimensionalen Plakaten und goldenen Statuen in demonstrativen Machtposen abgebildet ist. Allgemein erreicht der Personenkult rund um den letzten und aktuellen Präsidenten ungeahnte Absurdität, die zusammen mit höchster Korruption und Manipulation Zustände wie in Nordkorea ermöglichen. Beschränkter Zugang zum Internet, keine kritischen Medien, manipulierte Wahlen, keine Meinungsfreiheit und Staatseinnahmen, die zum Großteil in den Taschen der Mächtigen landen. Städte, dessen Prunkbauten entlang der Einfahrtsstraße die heruntergekommenen Plattenbauten, in denen menschenunwürdige Verhältnisse herrschen, vertuschen sollen. Kameras an jeder Ecke, Polizisten bei jeder Einfahrt und genaue Kontrolle, was wer wo zu wem sagt. Wir hören Geschichten von Spitzeln, die Regimegegner ausfindig machen und auffliegen lassen. Wir hören Geschichten von Hungersnöten, Wirtschaftskrisen und von verfälschten Arbeitslosenzahlen. Von Freiheit kann hier also wirklich nicht die Rede sein.

Nach 6,5 Stunden und 103 Kilometern erreichen wir eine LKW-Raststätte. Wir schlagen unser Zelt auf und bestellen unser erstes Bier seit 4 Monaten. Im Iran und im Oman gab es das nicht. In Turkmenistan ist das Bier nicht nur gekühlt und äußerst günstig, es schmeckt auch noch hervorragend. Ein kurzes Gefühl von Freiheit? Vielleicht.

 

Je weiter wir die iranische Grenze hinter uns lassen, desto tiefer dringen wir in die Wüste ein. Sanddünen, so weit das Auge reicht. Aber vielleicht nennt man es auch Steppe. Etwas Gestrüpp begleitet uns eigentlich die ganze Zeit. Was es auch sein mag, weit und menschenleer ist es allemal. Die Straßenverhältnisse wechseln zwischen katastrophal und halbwegs fahrbar, der Wind kommt einmal von der Seite und wenn er besonders gut gelaunt ist, auch mal kurz von hinten und die Temperatur liegt täglich jenseits der 45 Grad. Trotzdem läuft es heute wie geschmiert und wir brechen unseren eigenen Rekord: 137,5 Kilometer! Wir quartieren uns in einem heruntergekommenen Hotel aus Sovjet-Zeiten ein, gönnen uns ein Bier und fragen nach WLAN. WLAN? Das gibt es nicht. Wie war das noch mal mit der Freiheit?

„Angi wird es zu viel – sie wird unausstehlich!“ Reini sitzt zusammengekauert im Zelt und schreibt seine Gedanken in sein Tagebuch. Zu meiner Verteidigung – der heutige dritte Tag war wirklich katastrophal anstrengend. 95 Kilometer bei Gegenwind sind kein Zuckerschlecken. Da darf es schon vorkommen, dass man einmal unausstehlich wird. Und wenn ich an die übrigen 185 Kilometer denke, für die wir noch 1,5 Tage haben, wird mir schlecht. 

 

„Ich nehme dir heute deine Tasche ab“, sagt Reini beim Frühstück. Ich blicke ihn entsetzt an. Diese Blöße gebe ich mir nicht! Natürlich trage ich meine Tasche selbst. Zurück auf den Rädern, merken wir beide, wie gut es heute wieder vorwärts geht. Sogar ein bisschen Rückenwind! Zu Mittag halten wir, wie die vorigen Tage auch, an einer der LKW-Raststätten mit klimatisiertem Restaurant. Im ersten Moment hat man das Gefühl in einem Gefrierschrank zu sitzen, so stark wird hier heruntergekühlt. Dafür muss man nach dem Essen zurück in den Backofen. Wir sind beide definitiv große Freunde des Gefrierschrankes. 

 

Die Nachmittage sind immer am schlimmsten. Wenn man erst mal den Gefrierschrank verlassen hat, schlägt einem die Backofenhitze wie die Faust ins Gesicht. Das ist auch heute, am vierten Tag unseres fünftägigen Laufs gegen die Zeit, nicht anders. Ich werde immer langsamer. „Komm, gib mir doch deine Tasche!“, versucht Reini mich noch einmal zu überzeugen. Und ich gebe nach. „Aber pssst, das sagen wir keinem.“ Und so schaffen wir es heute tatsächlich noch bis Turkmenabat. Das sind dann erneut 137 Kilometer gewesen! Und zur Grenze trennen uns nur mehr lächerliche 47 Kilometer. 

 

Obwohl wir am fünften Tag die Grenze erreichen und nun auf der anderen Seite des Grenzpostens in Usbekistan sitzen, sind wir irgendwie nicht ganz zufrieden. Einerseits sind wir mächtig stolz und erleichtert, es geschafft zu haben, aber andererseits macht sich das Gefühl breit, dass alles andere auf der Strecke geblieben ist: Wer lebt hier? Wie geht es den Menschen? Was halten sie von ihrer Regierung? Wie sieht ihr Alltag aus? Welche Sorgen haben sie? Bei unserem fünftägigen Rennen blieb für diese Fragen keine Zeit. Zwei mal konnten wir mit einer Gruppe von Frauen sprechen, die in ihren bunten, aufwendig genähten Trachten so wunderschön aussahen. Aber die vielen Einladungen zum Tee mussten wir ablehnen. Im Nachhinein betrachtet wäre es wohl besser gewesen, einen Teil der Strecke mit dem Zug zu fahren. Das hätte uns viel Spontanität ermöglicht. Und in welchem Land wäre das spannender gewesen als in Turkmenistan?

 

In Usbekistan finden wir wenige Meter hinter der Grenze eine WLAN-Verbindung. Unsere Handys quellen über und spucken unzählige Male das gleiche Wort aus: I B I Z A. Da sage noch einer, man würde fünf Tage ohne Internet nichts Wesentliches verpassen. 


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Kommentare: 2
  • #1

    Glatz Franz (Sonntag, 12 April 2020 10:45)

    Hallo Angi hallo Reini, Danke für eure Berichte spitze ihr zwei ! Das mit dem unausstehlich verstehe ich sehr gut ,bei Anstrengung und eine gewissen Druck steht kann das schon vorkommen . Mir ist es immer so gegangen wenn ich meine Hunger übergangen bin und die Kraft nach gelassen hat.
    Lg aus Judenburg !
    Franz

  • #2

    Angi A. (Sonntag, 12 April 2020 17:31)

    Hallo Ihr Zwei!!! Ich hätte Reini die Tasche bereits beim ersten mal fragen gegeben :) also müsst ihr vielleicht doch nochmal nach Turkmenistan, die Tee Einladungen anzunehmen!

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